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Citytales Kurzgeschichten

In Istanbul schrieb ich zahlreiche Kurzgeschichten. Einen Auszug daraus trug ich im Rahmen von "City Tales" öffentlich vor.

Frau K. ist blind. Und ihre größte Leidenschaft ist es, Leute zu beobachten. Dann sitzen wir immer auf einer Bank an der Promenade und ich beschreibe ihr die vorbeiziehenden Fußgänger: »Dort läuft gerade eine Frau mit ihrem Mann. Er hat einen leichten Buckel, aber einen unbekümmerten, fröhlich wippenden Gang. Die Frau katscht auf einem Kaugummi herum und schiebt den Kinderwagen gelangweilt mit einer Hand…« Für jemanden der nicht blind ist, klingen solche Erklärungen wahrscheinlich ziemlich ausführlich und langweilig. Für Frau K. hingegen ist das wie eine unterhaltsame Seifenoper im Fernsehen. Wie ein nervöses Kind wippt sie ungeduldig auf der Bank hin- und her und spielt mit ihrem Zeigefinger auf dem Knauf ihres Blindenstocks. »Die Frau hat einen Stöpsel im Ohr und spricht gleichzeitig mit ihrem Mann, der neben ihr läuft. Sie sagt erst zu ihm: Ja, ja Süßer – ist schon gut! und dann in den Telefonhörer: Nein, die Teppichfliesen auf keinen Fall kaufen!« Frau K. lacht kurz, aber gibt sich nicht mit halben Sachen zufrieden: »Sag' schon – halten sie nun Händchen, oder nicht?« Ungeduldig tippt sie mit ihrem Stock auf den Boden. »Ja – das tun sie. Obwohl – Händchen halten trifft es nicht ganz. Eigentlich schleppt sie ihn eher hinter sich her. Und sie zerquetscht seine Finger zwischen ihren pink lackierten Fingernägeln. Fast so wie eine Saftpresse!« Frau K. hebt seufzend ihre Brust: »Der Arme. Ich hoffe er wird ihr endlich mal richtig seine Meinung sagen! Oder den Laufpass geben!« Und so verbringen wir ganze Nachmittage. Ich berichte ihr gerade von einem Kind, das sich rücksichtslos mit seinem Skateboard durch die Menschenmenge schiebt. Der Knirps versucht eine Gruppe gackernder Schulmädchen zu beeindrucken. Auf einmal schallt von hinten ein lautes Bellen und Frau K. unterbricht mich mitten in meiner Beschreibung: »Ist das der blonde Straßenhund ohne Halsband?« Ich tippe ihr einmal auf die Schulter – unser vereinbartes Zeichen für ja. »Sitzt der Fischer mit dem olivfarbenen Regenmantel und den gelben Gummistiefeln daneben?« Noch einmal tippe ich ihr auf die Schulter – ja. »Dann wirft er dem Hund doch bestimmt gerade einen Fisch zu, um ihn zu beruhigen!?«. Ich kann es nicht fassen – sie hat Recht! »Ja – gleich tut er das! Er bückt sich gerade, um eine silberne Sardelle aus seinem Plastikeimer herauszuholen!« Doch schon wieder fällt sie mir ins Wort: »Ist er immer noch unrasiert?« Mit einem leichten Klopfer berührt mein Zeigefinger ihre Schulter. …

2013 – Steffie, danke für die Einladung.